Es war ein ganz besonderer Moment im Rahmen der Jubiläumsshow zum 60-jährigen Bestehen des bpa in Hamburg. Der jüngere Bruder des früheren bpa-Präsidenten Werner Schulz, Axel Schulz, erzählte von der Motivation, Anfang der 60er-Jahre den Verband zu gründen. Es ging damals um eine Ungleichbehandlung der Privaten gegenüber freigemeinnützigen Trägern und um die unzureichende Refinanzierung der Pflege.
Und heute? Können wir es wirklich hinnehmen, dass wir 60 Jahre später im Kern vor sehr ähnlichen Problemen stehen? Natürlich: Gerade durch das große Engagement privater Träger hat sich die Pflege in diesen sechs Jahrzehnten rasant weiterentwickelt, qualitativ deutlich verbessert und kann in der Breite für die Bevölkerung noch immer weitgehend abgesichert werden. Aber wie lange noch? Wir erleben derzeit zum ersten Mal seit Einführung der Pflegeversicherung vor 30 Jahren einen Rückbau pflegerischer Versorgungsstrukturen. Alleine im Jahr 2023 sind 18.000 Pflegeheimplätze und mehrere Tausend Tagespflegeplätze verschwunden. Ambulante Dienste streichen ihre Touren zusammen und es häufen sich die Absagen an hilfesuchende Familien. Dreimal pro Tag muss jede Pflegeeinrichtung in Deutschland eine Versorgungsanfrage ablehnen, das hat unsere Kampagne „Bei Anruf Sorry“ gezeigt. Und die Politik? Die hat offenbar noch immer nicht erkannt, dass die Versorgung pflegebedürftiger Menschen nachhaltig sichergestellt werden muss und das mit hoher Priorität!
“Anything we can actually do, we can afford.”
So hat es John Maynard Keynes* gesagt, der nicht nur Ökonom, sondern auch Politiker war. Alles, was wir tun können, können wir uns auch leisten. Wir müssen es nur zur Priorität erklären und uns nicht hinter Finanzierungsdebatten verstecken.
Die aktuelle Bundesregierung hat große Worte für die Pflegebedürftigen und ihre An- und Zugehörigen sowie die Pflegeeinrichtungen übrig – und bisher erschreckend kleine Taten. Selbst die sichere zukünftige Finanzierung der Pflegeversicherung wurde vom großen Reformvorhaben zum kleinen Ideenpapier zusammengestrichen und letztlich so lange verzögert, bis nun auch nur eine ernsthafte Befassung damit vor der nächsten Bundestagswahl nahezu unmöglich erscheint und die Umsetzung wieder einmal in weite Ferne rückt. Dabei hat nicht nur der bpa mit seinem 5-Punkte-Plan aufgezeigt, dass auch im bestehenden System an vielen Stellschrauben gedreht und damit eine milliardenschwere und schnelle Entlastung des Systems erreicht werden kann.
Der 5-Punkte-Plan des bpa zum Nachlesen
Abgehobene Systemdebatten sind aber offensichtlich politisch attraktiver als echte Arbeit an den heute schon machbaren Veränderungen.
Eine greifbare Möglichkeit für konkrete Veränderungen bietet das Pflegekompetenzgesetz. Gestartet als Lieblingsprojekt der Pflegeberufsverbände ist es inzwischen zum sogenannten Omnibusgesetz geworden, auf das sich viele Hoffnungen konzentrieren. Neben dem titelgebenden Inhalt haben sich – weitgehend bisher nicht ausreichend ausgestaltet – weitere Aspekte mit in den Bus gesetzt, um doch noch durch das parlamentarische Verfahren zu fahren, bevor das Land wieder monatelang in eine wahlkampf- und regierungsbildungsbedingte Handlungsunfähigkeit versinkt.
Es ist also die vorerst wohl letzte Chance, die dringend notwendigen Maßnahmen zur Stärkung der Pflegeeinrichtungen auf den Weg zu bringen. Denn dass diese monatelang auf Vergütungsverhandlungen oder Zahlungen von Kostenträgern warten müssen, ist ein Teil der Ursache für die fortschreitende Angebotskrise, unter der Pflegebedürftige und ihre Familien massiv leiden. Dazu muss die Politik die kleinen Schritte hinter sich lassen und beherzt voranschreiten. Einige Beispiele:
Die längere Umsetzungsfrist der Tariftreue, drei statt zwei Monate, verändert bei Wartezeiten auf Abschlüsse von teils neun Monaten und mehr wenig. Die Schiedsstelle darf künftig von den Parteien gemeinsam auch schon vor Ablauf der Sechs-Wochen-Frist angerufen werden. Wichtiger aber wären effizientere Schiedsstellenverfahren, für die konkrete Vorschläge längst auf dem Tisch liegen.
Auch das Modellvorhaben für digitale Verhandlungen wird durch die alleinige Planungsverantwortung des GKV-Spitzenverbandes aufgeweicht. Der Verband selbst wird die entscheidenden Stellschrauben auf Seiten der Pflegekassen eher nicht ernsthaft angehen.
Eine wirklich verheerende Wirkung hätte die Einschränkung der Rückwirkung von Vergütungsvereinbarungen. Wenn es während des Schiedsstellenverfahrens noch Änderungen am Antrag gibt, gilt die Vereinbarung nicht mehr ab Eingang des ursprünglichen Antrags, sondern ab dem Tag der Änderung. Damit wären Antragsänderungen zur schnelleren Einigung nicht mehr möglich, ohne erhebliche Einnahmeverluste in Kauf zu nehmen. Das stärkt den Anreiz für Verzögerungen auf Seiten der Kostenträger.
Hilfreich hingegen ist der Auftrag an die Kostenträger, bei Verhandlungen einen einheitlichen Ansprechpartner zu benennen, der auch die schriftliche Vertragserklärung für alle Kostenträger abgeben kann. Das wäre das Ende von wochenlangen Unterschriftenverfahren nach Verhandlungsabschluss – soweit eine Verbindlichkeit besteht und die Kostenträger nicht weiter individuell prüfen können.
Große Wirkung können auch die Bundesempfehlungen für effiziente und bürokratiearme Vergütungsverfahren entfalten. Hier soll die Selbstverwaltung u. a. Empfehlungen abgeben für Vorgaben zur Darlegung und Nachweisführung der prospektiven Sach- und Personalaufwendungen, für geeignete Formen der Hinterlegung zugrunde gelegter Personal- und Sachaufwendungen sowie für eine Methodik für vereinfachte Verfahren mit pauschalen Anpassungsinhalten in Einzel- und Kollektivverhandlungen. Zudem sollen Hilfestellungen für den Umgang mit aktuellen Themen wie Digitalisierung oder Nachhaltigkeit in Pflegesatzverfahren bereitgestellt werden.
Dennoch: Mit dem, was bisher vorliegt, wird die Zukunftsfähigkeit von Pflegeeinrichtungen nicht gesichert. Die Bundesregierung muss umfassend nachbessern und auch die Entspannung der derzeit massiv drückenden Personalsituation in den Blick nehmen.
Neben einer deutlichen Stärkung der Pflegeausbildung und Wiedereinführung des Altenpflegeberufes liegt in der schnelleren Anerkennung internationaler Pflegekräfte die größte Chance, um Pflegeteams schnell zu entlasten und die pflegerische Versorgung zu sichern. Schließlich machen die Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Herkunftsländern inzwischen fast die Hälfte aller aus, die zusätzlich in die Pflege kommen. Dass sie aber monatelang und teils mehr als ein Jahr auf ihren Einsatz als Fachkräfte warten müssen, während wir sie dringend brauchen, ist immer weniger hinzunehmen. Gemeinsam mit dem Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek) haben wir deshalb als zusätzlichen Baustein für die Pflege die gesetzliche Einführung einer sogenannten „Kompetenzvermutung“ gefordert.
Dadurch können internationale Pflegekräfte mit einer mindestens dreijährigen Ausbildung oder einem Studium sowie den notwendigen Sprachkenntnissen sofort als Fachkräfte in Deutschland tätig werden. Weitere Prüfungen von Ausbildungsinhalten und ggf. notwendigen Anpassungsmaßnahmen erfolgen im notwendigen Maß dann erst nachgelagert.
Dies führe zu einer sofortigen Entlastung der Situation in den Pflegeeinrichtungen und das mit einem qualitätsgesicherten Konzept. Eine entsprechende Regelung könnte über das Gesetzgebungsverfahren zum Pflegekompetenzgesetz im Pflegeberufegesetz verankert werden. Vielen tausend pflegebedürftigen Menschen könnte dann von heute auf morgen in Pflegeeinrichtungen eine Versorgung angeboten werden.
Wir wissen, was zu tun ist. Wir wissen, wie wichtig diese Schritte sind. Das Pflegekompetenzgesetz bietet die Chance, aktiv zu handeln, und diese darf nicht verpasst werden.
In den vergangenen Jahrzehnten war es die durch privates Unternehmertum getriebene Innovation, die für den Aufbau der Versorgungsstrukturen gesorgt hat. Wenn der Politik endlich der Sinneswandel gelingt, weg von überbordender Regulierung und komplizierter Bürokratie, dann kann an diese Stärke wieder angeknüpft werden. Es sind gerade die Gestaltungspielräume, die für den jetzt notwendigen Aufwind sorgen.