"Mehr Flexibilität und Gestaltungsfreiheit statt Kontrolle und Bürokratie"

Interview mit Dr. Jochen Pimpertz vom IW Köln e. V. zur Studie „Anforderungen an ein zukünftiges Pflegewesen“

Dr. Jochen Pimpertz, Foto: Uta Wagner

Interview mit Dr. Jochen Pimpertz, Leiter Themencluster Staat, Steuern, Soziale Sicherung, Institut der Deutschen Wirtschaft Köln e. V. (IW), zur Studie  „Anforderungen an ein zukünftiges Pflegewesen“. Der bpa hat dieses Gutachten zur Langzeitpflege beim IW in Auftrag gegeben.

Sie haben mit Ihrer Kollegin die Pflegeversicherung unter die Lupe genommen. Dazu wurde ja in den letzten Jahren schon viel gesagt. Welche spezielle Perspektive bringt Ihre Studie ein?

Vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung haben wir uns gefragt, ob die Weichen in der Pflege zukunftsfest gestellt sind. So hat sich die Zahl der Pflegebedürftigen seit 2017 verdoppelt. Das hat aber weniger mit der Bevölkerungsalterung zu tun als vielmehr mit der Einführung des neuen Pflegebegriffs. Die Babyboomer werden erst ab dem nächsten Jahrzehnt für nochmals stärker steigende Fallzahlen sorgen. Dennoch entfaltet die Demografie ab jetzt ihre Wirkung. Denn in der neuen Legislaturperiode werden hierzulande 5,2 Millionen Menschen das gesetzliche Ruhestandsalter erreichen, aber nur noch 3,1 Millionen Menschen mit einem Alter von 20 Jahren nachrücken. Mit anderen Worten: Das Arbeitskräfteangebot schrumpft. Davon werden personalintensive Sektoren wie die Pflege besonders betroffen sein. Uns hat die Frage umgetrieben, was es braucht, damit Pflege mit immer weniger Arbeitskräften gelingen kann, insbesondere wenn künftig die Versorgungsbedarfe deutlich steigen.


Sie plädieren nicht für den großen Systemwechsel. Ist die Pflegeversicherung besser als ihr Ruf?

Für einen Systemwechsel, zum Beispiel auf eine kapitalgedeckte Finanzierung, gibt es gute Gründe. So werden in der umlagefinanzierten Pflegeversicherung steigende Finanzierungserfordernisse systematisch auf die Schultern nachfolgender Generationen überwälzt. Doch allein, was hilft es, wenn ein Systemwechsel lange Übergangsfristen erfordert, aber aktuelle Probleme gelöst werden müssen.

Die Herausforderung besteht doch darin, die Pflegeversicherung jetzt zukunftsfest zu machen. Und hier gilt es, zweierlei zu beherzigen: Statt nach neuen Finanzierungsquellen zu suchen, sollte die Pflegepolitik Einsparpotenziale auf der Ausgabenseite nutzen. Anderenfalls drohen steigende Beitragslasten, die ohnehin schwächelnde Wirtschaft abzuwürgen. Kapitaldeckung darf kein Tabu sein, aber statt mit dem System zu brechen, würde es helfen, wie in der Altersversorgung eine ergänzende kapitalgedeckte Säule zu installieren.

Mindestens genauso wichtig erscheint uns aber, die Pflegedienste und Einrichtungen jetzt dazu zu befähigen, steigende Pflegebedarfe auch bei zunehmend knappem Arbeitskräfteangebot versorgen zu können. Dafür braucht es mehr Flexibilität und Gestaltungsfreiheit statt Kontrolle und Bürokratie.


Im Bundestagswahlkampf haben sich die Parteien noch mit neuen Leistungsversprechen überboten. Kommt jetzt die Ernüchterung nach den schönen Phantasien?

Das Thema Pflege hat im Wahlkampf nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Und wenn, dann ging es um zusätzliche Leistungsversprechen – zum Beispiel eine Vollkostendeckung bei stationärer Pflege. Derartige Vorstellungen scheinen aber aus der Zeit gefallen zu sein. Denn eine Umsetzung würde die Ausgaben der Pflegeversicherung und damit den Beitragssatz weiter in die Höhe treiben. Wenn die Boomer in zehn bis fünfzehn Jahren ins hochbetagte Alter kommen, dann satteln steigende Finanzierungserfordernisse auf einem noch höheren Beitragssatzniveau auf. Statt Wünschenswertes zu versprechen, muss es jetzt in der Pflege darum gehen, sich auf das zu konzentrieren, was auch unter veränderten Voraussetzungen leistbar ist. Ansonsten droht die Ernüchterung spätestens in einigen Jahren, wenn mit den Babyboomern mehr Menschen pflegebedürftig werden, für deren Versorgung aber keinerlei Vorkehrung getroffen wurde.


In vielen Ideen zur Zukunft der Pflegeversicherung geht es vor allem darum, die Einnahmenseite zu verbreitern. Wird das helfen?

Die Politik scheut bislang, die einmal gegebenen Leistungsversprechen zu hinterfragen – wohl in der Sorge, vor allem ältere Wähler zu vergraulen. Leichter scheint deshalb die Suche nach neuen Finanzierungsquellen. Doch gerät dabei aus dem Blick, dass steigende Beitragslasten problematische Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und die Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherung haben. Das IW hat aufgezeigt, dass höhere Abgabenlasten die ohnehin schwache Investitionsneigung am Standort zusätzlich belasten, der private Konsum dauerhaft schrumpft und deshalb die wirtschaftliche Entwicklung gebremst wird. Dann droht aber eine Negativspirale, weil die Entwicklung der beitragspflichtigen Einkommen immer weiter hinter das Ausgabenwachstum zurückfällt. Statt darauf zu schielen, wen man wie in die beitragsfinanzierte Pflegeversicherung einbinden kann, wäre es hilfreich, kurzfristig die Ausgabenentwicklung zu stabilisieren. Mit Blick auf die Einnahmenseite wäre es hilfreich, über eine ergänzende kapitalgedeckte Finanzierungs­säule nachzudenken, um jüngere Generationen zu entlasten. Allzu leicht gerät in Vergessenheit, dass es deren Zustimmung und Bereitschaft braucht, damit auch künftig die Versorgung der Pflegebedürftigen aus Beitragseinnahmen finanziert werden kann.


Mehr Pflegebedürftige brauchen mehr – und immer länger – Unterstützung. Die Kosten werden also immens weiter steigen. Wie kann Deutschland das stemmen?

Das trifft bislang so auf die professionelle ambulante oder vollstationäre Pflege nicht zu. Der Anstieg der Fallzahlen im Pflegegrad 1 sowie ein immer länger währender Pflegegeldbezug können den Befund erklären. Wenn sich der Trend zu längerem Pflegegeldbezug verstetigt und die Babyboomer pflegebedürftig werden, dann gilt auch hier das Zitat des ehemaligen Bundesarbeits- und Sozialministers Franz Müntefering: „Da muss man kein Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um zu wissen: Das kann nicht gehen.“ Denn es stellt sich ja nicht die Frage, wie Deutschland das stemmen kann. Konkret geht es um die jüngeren Beitragszahler und ob die bereit sein werden, lebenslang steigende Beitragslasten zu schultern.


Unpopulär, aber notwendig – was ist mit der Ausgabenseite? Welche Stellschrauben haben Sie identifiziert?

Richtig ist, dass die Finanzen der Pflegekassen zügig stabilisiert werden müssen. Gut begründet ist deshalb die Forderung, dazu versicherungsfremde Leistungen aus der Beitragsfinanzierung zu nehmen oder womöglich ganz zu streichen. Bislang wagt es die Politik aber nicht, einmal versprochene Leistungsbestandteile auf den Prüfstand zu stellen. Potenzial böte das Pflegegeld. Denn bislang wird nicht überprüft, ob das Geld für pflegebezogene Aufwendungen eingesetzt wird, ganz zu schweigen, ob Pflegebedürftigkeit auch zu einem finanziellen Unterstützungsbedarf führt. Eine wenig treffsichere Sozialpolitik kommt aber die Beitrags- und Steuerzahler unnötig teuer zu stehen.


Eine neue Ministerin oder ein neuer Minister muss die Sache bald anpacken. Was raten Sie der neuen Spitze im Gesundheitsministerium als erstes?

Es gibt viel zu tun. Als erstes würde ich empfehlen, versicherungsfremde Leistungen sofort aus der Pflegeversicherung herauszunehmen. Das hilft fürs Allererste, die Pflegekassen zu stabilisieren. Darüber hinaus gehört das Pflegegeld auf den Prüfstand. Auch bei den Themen Bürokratie und Regulierung bleibt nicht viel Zeit. Das gilt nicht nur mit Blick auf betriebswirtschaftliche Sachzwänge und das schrumpfende Arbeitskräfteangebot. Hier braucht es Gestaltungsspielräume für die Entwicklung passgenauer Lösungen statt uniformer Vorschriften, die den lokalen Arbeitsmarktgegebenheiten und Pflegebedarfen nicht gerecht werden. Es geht aber auch um die Attraktivität des Pflegeberufs. Denn Dokumentationspflichten und Kontrollen verströmen eher den Anschein von Misstrauen als Wertschätzung gegenüber den engagierten Pflegekräften.

 

Hier finden Sie das Gutachten  "Anforderungen an ein zukunftsfähiges Pflegewesen"