Versorgungsmangel in der Pflege schadet der Gesamtwirtschaft

bpa, Wohlfahrtsverbände, Handelskammer und Unternehmensverbände diskutieren mit Senatorin und Experten aus Pflege, Wissenschaft und Wirtschaft

Wohnbereiche in Pflegeeinrichtungen müssen aus Personalmangel schließen, Unternehmen senden zunehmend Alarmsignale, weil Mitarbeitende vorübergehend oder langfristig ihre Arbeitszeit reduzieren, um hilfebedürftig gewordene Angehörige zu pflegen, die Ausbildungszahlen gehen dramatisch zurück – ein komplexer Problemmix, der sich angesichts der Demografie in den kommenden Jahren deutlich verschärfen wird. Und die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz, Claudia Bernhard, bestätigt: „Die Probleme sind bedrückend. So eine Diskussionsrunde wie diese Veranstaltung aus der Praxis heute sind deshalb sehr wichtig, um den Einsatz gezielt für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen auf breite Füße zu stellen“.

„Wer für seine Angehörigen keinen Pflegeplatz findet, fehlt morgen selbst bei der Arbeit – wie der Versorgungsmangel in der Pflege der Gesamtgesellschaft schadet“ lautete der Titel einer gemeinsamen Veranstaltung von bpa, Wohlfahrtsverbänden, Unternehmensverbänden im Land Bremen und der Handelskammer Bremen/Bremerhaven. Eine konzertierte Aktion von Pflegeunternehmen und Wirtschaftsbetrieben, um die sich durch Personalmangel zuspitzende Situation im Alltag eindrücklich darzustellen. Über 70 Teilnehmende konnte Johanna Kaste, Leiterin der bpa-Landesgeschäftsstelle Bremen/Bremerhaven begrüßen. „Die fehlende pflegerische Versorgung in Deutschland ist inzwischen ein Treiber des Personalmangels in anderen Branchen“, so Kaste. „Jede vierte Teilzeitkraft hat den Arbeitsumfang reduziert, um Angehörige zu betreuen“. Und die Situation wird sich verschärfen, weil nicht einmal 90% der Pflegeplätze belegt werden können.

Cornelius Neumann-Redlin, Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände ergänzte: „Wir haben ein gesellschaftliches Problem: Die sogenannten Baby-Boomer gehen in Rente und müssen sich vermehrt um ihre noch älteren Eltern/Angehörigen kümmern. Es entsteht ein noch höherer Bedarf an Pflege- und Unterstützungsangeboten. Wir haben einen dringenden Handlungsbedarf“.

Nach fachlichen Inputs durch Experten diskutierten Senatorin Claudia Bernhard, bpa-Landesvorsitzender Sven Beyer, Martin Böckmann, Caritasdirektor, Ulrike Wagner, Personalleiterin der Bremer Straßenbahn AG (BSAG) und Professorin Dr. Irene Gerlach, wissenschaftliche Leiterin am Forschungszentrum Familienpolitik, unter der Moderation von Martin von Berswordt-Wallrabe.

Obwohl die Bevölkerung im Land Bremen etwas langsamer älter wird als im Bundesdurchschnitt und die Zahl der pflegebedürftigen Hochaltrigen (noch) relativ stabil ist, prognostiziert der aktuelle Bremer Landespflegebericht eine deutliche Zunahme bei der Pflegebedürftigkeit, vor allem weil die große Zahl der Menschen, die derzeit noch zuhause betreut wird, in die professionelle Pflege wechseln wird. Und das bei einem deutlichen Rückgang des Versorgungsgrades im Land Bremen. In dem Zweit-Städte-Staat sind kontinuierlich rund 1.000 der insgesamt 7.000 Pflegeplätze aus Personalmangel nicht besetzt. Darüber informierte Dr. Thomas Kalwitzki, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Abteilung Gesundheit, Pflege und Alterssicherung beim Socium der Universität Bremen. „Wir brauchen mehr Angebote für Pflege im Quartier und dafür dringend eine kleinräumige Planung“, so Kalwitzki und er appelliert, Fördermöglichkeiten z.B. für innovative Unterstützungsvorhaben und -strukturen für Pflegebedürftige und Angehörige in den Wohngebieten zu nutzen.

Ende 2021 haben in Deutschland 5 Millionen pflegebedürftige Menschen gelebt, über die Hälfte von ihnen wurde von Angehörigen versorgt. „Für Pflege werden – zusammengefasst – durch pflegende Angehörige, ambulante Pflegedienste und andere durchschnittlich fast 63 Stunden in der Woche, d. h. etwa 9 Stunden pro Tag aufgewendet. 49,3 Stunden davon übernimmt durchschnittlich die Hauptpflegeperson“. Das stellte Professorin Dr. Irene Gerlach fest. Und die Hauptpflegeperson ist erst einmal eine Angehörige, von der der Hauptteil an Betreuung und Pflege geleistet wird. Die Belastung ist enorm. Und dabei haben 51% der erwerbstätig ehrenamtlich Pflegenden ihre Arbeitszeit nicht reduziert. 41% allerdings haben sie reduziert und stehen an ihrem Arbeitsplatz nur noch eingeschränkt zur Verfügung. „Der Personalmangel wird sich drastisch verschärfen“, so Prof. Gerlach.

„Allein in den kommenden neun Jahren erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen bei uns auf 6 Millionen. Es gibt eine breite Palette von staatlichen Maßnahmen wie Pflegeunterstützungsgeld, Unterstützung aus dem Pflegezeitgesetz u.a.m. Was wir vermehrt benötigen, ist eine pflegesensible Personalpolitik der Unternehmen“. - Dr. Irene Gerlach

Mit Fragen an die Senatorin für Gesundheit, Frauen und Verbraucherschutz eröffnete der Moderator die Podiumsdiskussion. Wie sieht der Dialog von Politik und Praxisbetrieben aus, welche Stellschrauben sind identifiziert? „Die Bedeutung der Pflege und die Herausforderungen an die Betriebe sind stark gestiegen“, so die Senatorin. Die Zahl der Ausbildungsplätze müsse sich massiv erhöhen, die Abbrecherquote sich deutlich reduzieren, die Anerkennung ausländischer Abschlüsse beschleunigt werden. Einiges sei schon auf dem richtigen Weg. Für die Anerkennung gebe es mittlerweile ein Online-Portal, das Projekt Gesundheitsfachkräfte im Quartier konnte verstetigt werden. Aber: „Die Pflegeversicherung muss neu aufgestellt werden, die Schere zwischen der Belastung der Angehörigen durch Pflege zuhause und weniger Geld durch Reduzierung der Berufstätigkeit muss geschlossen werden“.

„Im Schnitt sind die berufstätigen Menschen, wenn ihre Eltern versorgt werden müssen, bei uns 46 Jahre alt“, weiß Personalchefin Ulrike Wagner von der BSAG aus Erfahrung, eine große Herausforderung an Unternehmen. „Wir bieten Informationsveranstaltungen zum Thema Pflege an, Fachleute stehen für Fragen zur Verfügung“, so Wagner. Bei aller Unterstützung findet der spontan entstehende Personalmangel z.B. durch Stundenreduzierung seinen direkten Niederschlag auf die Fahrpläne von Straßenbahnen und Bussen. Ulrike Wagner: „Wir können nur erste Hilfe in Krisen- und Notfällen leisten und dann an die regionale Infrastruktur mit den dortigen Angeboten vermitteln“.

Vor diesem Hintergrund, so Professorin Gerlach, sei das Signal des Unternehmens an die Beschäftigten, dass es Ansprechpartner und Angebote in Bezug auf Vereinbarkeit von Beruf und Pflege im Betrieb gibt, von besonderer Bedeutung. Die Erwerbstätigkeit sollte in jedem Fall aufrechterhalten werden können, denn die Menschen fehlen im Arbeitsalltag. Kontakte zu Firmen, die bereits erfolgreich seit Jahren Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie praktizieren, seien hier sehr hilfreich.

Und auch Senatorin Bernhard bestätigt: „Das Informationsmanagement sollte erweitert werden, niedrigschwellig und mehrsprachig sein. Wir haben in unserem Stadtstaat gute Voraussetzungen für eine enge Vernetzung. Die Anlaufstellen für „Pflege im Quartier“ müssen weiter ausgebaut werden. Das kostet Geld, das nicht nur vom Gesundheitsressort zur Verfügung gestellt werden kann. Projekte können nur der Einstieg in folgende nachhaltige Angebote sein“.

Betriebe könnten zwar in Krisensituationen ihre Beschäftigten unterstützen, bei der Suche nach professioneller Pflege kommt es aber immer öfter zu Absagen von Nachfragen. Das können die beiden Praxisvertreter Sven Beyer und Martin Böckmann nur mit Bedauern bestätigen. Fehlendes Personal, starke Konkurrenz mit anderen Branchen auf dem Arbeitsmarkt, geschlossene Wohnbereiche und dadurch negative finanzielle Auswirkungen auf die Träger sowie ein künftig noch weiter wachsender Bedarf an Pflegekräften durch das Personalbemessungsgesetz – das sind die Fakten. „Wir brauchen eine deutliche Erhöhung der Ausbildungsplätze bzw. ein Überdenken der jetzigen Ausbildungsformen“, so Beyer. Die Altenpflegeausbildung habe bedeutend mehr junge Leute motiviert, eine Ausbildung zu beginnen. Und bei der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen müsse die Kompetenzanerkennung eine viel größere Rolle spielen. „Wer eine dreijährige Fachausbildung im Ausland erworben hat und die Sprache beherrscht, sollte sofort in der Praxis arbeiten dürfen“, verdeutlicht Beyer. Und Böckmann ergänzt: „Pragmatismus und Vertrauen in die Träger sollten bei Entscheidungen als Kriterium eine größere Rolle spielen. Es gibt noch Spielräume für den Praxisalltag der Pflege. Flexibel zu arbeiten kann junge Menschen motivieren“.

„Angesichts der zunehmend dramatischer werdenden Situation in Pflegebetrieben und der wachsenden Nachfragen nach Plätzen für Betreuung und Unterstützung brauchen wir einen engen und ernsthaften Dialog, um gemeinsame Lösungen zu finden“, so Sven Beyer und appellierte an die Senatorin, Betriebe und Beschäftigte zu unterstützen. Dazu Senatorin Bernhard: „Natürlich unterstütze ich Sie, soweit mir das möglich ist, weil mir die Dringlichkeit der Probleme in der Pflege bewusst ist. Wir brauchen allerdings auch einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, der von allen MultiplikatorInnen getragen und auch eingefordert wird. Solche Veranstaltungen wie heute, die die Bedeutung von Pflege in den Mittelpunkt stellen, Forderungen und Empfehlungen formulieren,  müssen über diesen Kreis hinaus getragen werden.

Und dieser Hinweis wurde im Abschlussstatement von Dr. Matthias Fonger, Hauptgeschäftsführer der Handelskammer, gern aufgenommen:

„Frau Senatorin Bernhard hat zugesagt, das heutige Veranstaltungsthema gemeinsam mit uns weiter zu verfolgen. Und darüber freuen wir uns. Der demografische Wandel führt zur Katastrophe, wenn wir nicht handeln, und zu einem volkswirtschaftlichen Schaden. Wir müssen gesamtwirtschaftlich denken. Lösungsansätze stecken in den Themen Ausbildung, Zuwanderung, Anerkennung von Abschlüssen. Für die Handelskammer nehme ich mit, dass Unternehmen flexibel reagieren müssen, wenn sich ihre Beschäftigten vorübergehend um ihre Angehörigen kümmern müssen. Wir haben zwar ein gesellschaftliches Problem, aber die Erfahrungen aus dem stringenten Umgang mit der Corona-Pandemie auf Landesebene hat gezeigt: Gemeinsam können wir solche Herausforderungen gut bewältigen“ - Dr. Matthias Fonger